Langes Fädchen – faules Mädchen! Oberschaffnei – von 1970 bis etwa 1975 Es war in der Oberschaffnei, als ich mir zum ersten Mal Gedanken machte, ob es die Jungs nicht doch besser im Leben hätten: zumindest an diesen speziellen Nachmittagen, wo sie im Schwimmbad ins Wasser sprangen oder auf der Straße einen Fußball gegen das Garagentor schmetterten. An diesen nicht enden wollenden Nachmittagen saßen wir GymiMädchen im ersten Stock der Oberschaffnei im Handarbeitsunterricht und die Jungs hatten frei! Weißnäherei stand auf dem Stundenplan, den sich die Ordensschwestern der Franziskanerinnen aus Sießen ausgedacht hatten, und Weißnäherei war eine einzige Plage. Der Kopfkissenbezug vereinte gleich vier Schikanen dieser Disziplin: die doppelte Wäschenaht, den Hohlsaum, das Knopfloch und das Knopfannähen. Beim Austeilen der Scheren hatte ich schon Pech. Meine schnitt nur auf den letzten drei Zentimetern, ab dann wurde der Stoff gequetscht. Dementsprechend zickzackartig wurde der Zuschnitt. Schon tauchte die graue Eminenz hinter mir auf. Zu hören war Schwester Luitburga in ihren Schleichschuhen nie, aber ich konnte sie riechen. Der Schneiderduft den sie verströmte, kam vom Maßband, das sie um den Hals trug, zusammen mit dem Jesus am Kreuz, ihrem Verlobten, wie sie uns erzählte, von dem sie auch den Ring mit den INRI-Insignien trug. Das Maßband roch nach der aufgetragenen Gummimasse mit einer metallenen Herznote. Wortlos, jedoch mit strafendem Blick, schnitt sie mit ihrer frisch geschliffenen Schere den Stoff gerade. Ein paar meiner Mitschülerinnen saßen schon an der Maschine, während ich noch am Heften war und mir anhören musste: „Langes Fädchen, faules Mädchen“. Es gab die Fleißigen, die immer die guten Scheren bekamen und nicht von ihrer Arbeit aufschauten, denen es mühelos gelang drei Kettfäden aus dem Leinenstoff herauszuziehen, ohne dass der Faden brach. Die sich nicht beklagten, wenn sie über einen Meter lang Fädchen zählen mussten, immer drei zusammenbündeln und exakt einen Millimeter tief vernähen, um einen maschinengleichen Hohlsaum zu bekommen. Die schwatzten auch nicht und mussten somit die Arbeit auch nicht mit nach Hause nehmen, um das nicht erreichte Etappenziel nachzuholen. So eine war Gabi. Gabi war schnell, verbissen und immer auf eine Eins aus. Doch einmal war sie zu schnell. Das war der Nachmittag, wo sie sich mit der Nähmaschine den Zeigefinger am Stoff festnähte. Es war ganz still im Raum, als plötzlich ein Schrei aus der ersten Maschinenreihe die stickige Luft durchschnitt. Schwester Luitburga stand schon bei der Verletzten, hob den Nähfuß an und löste die Schraube, an der die Nadel befestigt war. „Halt still“, zischte sie die Gabi an, die auch augenblicklich verstummte. Mittlerweile breitete sich ein Blutfleck unter ihrem Zeigefinger auf der Weißnäherei aus, der sich rasch vergrößerte und der die Gabi nun zum Heulen brachte. Irgendwie gelang es Schwester Luitburga die Nadel von der Maschine zu lösen, aber nicht vom Finger. Renate durfte die Gabi mit ihrem Nadelfinger ins Krankenhaus begleiten, und Sabine durfte zu den Gabi-Eltern gehen und Bescheid geben, dass sich Gabi den Finger vernäht hatte. Ich durfte nichts, musste aber wieder einmal meine Sachen mit nach Hause nehmen und übers Wochenende fertigmachen. Am Ende der achten Klasse waren wir mit allen Zierstichen durch, hatten x Knopflöcher genäht und Tischdecken eingefasst, als Schwester Luitburga meinte, zum Abschluss dürften wir uns einen Rock nähen und den Stoff selber kaufen. Ich träumte von einem Kordsamt-Minirock, vielleicht grün oder orange mit Lackstiefeln und Plateausohle, aber die Mutter hatte noch eine große Menge braunen Kordsamt im Schrank. Als es ans Abmessen ging, verließ mich mein Mut. Schwester Luitburga vermaß uns der Reihe nach, von der Taille bis zum Knie. Ich traute mich nicht, das Wort Minirock in den Mund zu nehmen und entschied mich ganz spontan für Maxi. Stoff war ja genügend da. „Maxi sieht schlampig aus“, erklärte Schwester Luitburga und maß mir eine Länge ab, die der Rocklänge ihres Ordensgewandes exakt entsprach. Beim Taillenumfang legte sie die Hand unters riechende Maßband und gab nochmal gut zehn Zentimeter dazu: „ein Rock muss locker sitzen!“ Der braune Kordsamtrock wurde weder lang noch kurz, weder weit noch eng, saß nicht, und trotzdem meinte die Mutter, ich solle doch stolz sein, auf mein erstes selbstgenähtes Kleidungsstück. Ich trug ihn sicher nicht öfters als drei Mal, aber er hing jahrelang in meinem Schrank. Dann war der Handarbeitsunterricht vorbei, die Minirockmode auch und ich trug Bluejeans, für die mir meine Großmutter Geld zusteckte. Meine Nähkenntnisse brauchte ich nun, um die Schlaghosen mit Borten zu verlängern und Blümchen auf die Jeans zu applizieren. Zu den Jeans gesellten sich bodenlange indische Baumwollkleider und Holzclocks. Nach dieser Verwandlung zog ich wieder die Schulgasse entlang, jeden Sonntagnachmittag, denn unter den Handarbeitsräumen gab es jetzt die Disco im alten Gewölbe der Oberschaffnei und die Welt hatte sich vollkommen verändert. „Disco“ war eines der Worte, das der Mutter zu einer mittelschweren Panikattacke verhalf. 40 41
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