Ein kurzer, erinnerungsreicher Abendspaziergang vom Ehinger Marktplatz aus in die Schulgasse 21 im Juli 2016 Keine Menschenseele ist heute hier nach diesem heißen Sommertag unterwegs. Im sanftgelben, späten Abendsonnenschein leben die verlassenen, dicken Mauern des ehemaligen Urspringer Hofs auf. Errichtet wurde der große Bau 1687, der über ein Jahrhundert später – wohl seiner neuen Funktion entsprechend – die Oberschaffnei genannt wurde. Die Oberschaffnei im Restaurierungsprozess zeigt mir neuen Lebenswillen. Sie beginnt mir manches von ihrer alten und neuen Geschichte zu berichten. Ihre breiten, schweren Eichentüren mit den starken, alten, eisernen Beschlägen sind jetzt fest verschlossen. Den Eingang an der Rückseite ließen die Bauarbeiter offen, und über eine sehr provisorische Bretterbrücke gelange ich in den breiten Eingangsflur. Nach sehr langer Zeit erlebe ich die wohltuende Ausgeglichenheit, die das gleichmäßige, geschwungene, sandsteinfarbige Deckengewölbe dem eintretenden Besucher bietet. Mir kommen Goethes Verse in den Sinn: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen. Was man nicht nützt, ist eine schwere Last.“ (Faust I) In Gedanken erlebe ich mein unzählbares Auf und Ab, die breiten, flachen Sandsteinstufen hoch- und hinuntereilend. Auch die Urspringer Benediktinerinnen sehe ich hier noch, sie gehen mit ihren dunklen Gewändern durchs schützende Sandsteintor, dann den Gänsberg hinunter, sie steigen die steile Treppe am Michaelsbrunnen hoch in die nahe Stadtpfarrkirche zum Gebet. Ich wende mich nun wieder dem hinteren Ausgang in der umgekehrten Richtung zu, und jetzt geht mein Blick zur Stadtmauer mit dem ehemals weitläufigen Garten davor. Die letzten mir bekannten Hausmeisterehepaare brachten dieses gesegnete Stück Land, mitten in der Stadt, zum Blühen und zum Ernten. An der warmen Hauswand spielten oft viele kleine Puppenmütter. Das Interesse an den Romanen des bekannten Kölner Literaturpreisträgers und oft hart kritisierten Nobelpreisträgers Heinrich Böll führten mich im März 1974 in die öffentliche Stadtbücherei Ehingens. Lobende und vernichtende Urteile über den bekannten Nachkriegsschriftsteller wollte ich prüfen. Meine vielbelesene Grußmutter fand, dass er ein „frivoler Bursche“ sei, und der bekannte Ulmer Professor, der Neurologe Kornhuber, verlangte, dass u.a. Schriftstellern auch alle Veröffentlichungen von Heinrich Böll aus der Studentenbibliothek Ulms entfernt werden müssten. Ich besuchte also im März 1974 die seit dem Ende der 40er Jahre in der Oberschaffnei untergebrachte Bücherei. Es kam zu einer sehr freundlichen Begegnung mit Frau Fröhlich, die dort seit 9 Jahren die Freihandbibliothek betreute. Sorgfältig schonend eingebunden konnte ich mit dem Nobelpreisträgerbuch nach Hause gehen. Da ich mich seitdem öfters in der Oberschaffnei-Bücherei aufhielt, mich als literaturkundig gezeigt hatte und ausgebildete Verlagsbuchhändlerin war, vertrat ich Frau Fröhlich öfters kurzfristig. Als sie die Büchereileitung endgültig aufgab, bewarb ich mich für die frei gewordene Stelle als neue Leiterin. Nach 18, ausschließlich der Familie gewidmeten Jahren, wollte ich mich wieder in meinem beruflichen Umfeld engagieren und konnte 1974 die Stadtbüchereileitung übernehmen. Der nun wiedererlangte intensivere Kontakt mit Büchern und Lesern und den damit verbundenen verwaltungstechnischen Aufgaben machte mir Freude: Besucherzahlen und Ausleihen stiegen kontinuierlich, was eine ständige Buchbestandserweiterung notwendig machte. Von 5000 Büchern konnte der Bestand auf 14500 erweitert werden, und die oft von ganzen Familien genutzten Leseausweise von etwa 1000 eingetragenen Lesern auf weit über 4200 gesteigert werden. Viele neue Besucher stellten sich in der Oberschaffnei ein. Die ausgedehnte Öffentlichkeitsarbeit zeigte Erfolge. Um der nachlassenden Leselust von Jugendlichen und Kindern gegenzusteuern wurden besonders ausgewählte Jugend- und Kinderbuchautoren zu Lesungen eingeladen. Es kamen z.B. Josef Guggenmos mit seinen vielen Reimen, Boy Lornsen, Irina Korschunow, Paul Maar und Helme Heine in die immer enger werdende Bücherwelt der Oberschaffnei. Dort kamen, auf Packpapier schnell skizziert, auch Paul Maars struwweliges Sams und Helme Heines Tierwelt zum Vorschein, dessen gesungene Verse von der großen Kinderschar begeistert und lautstark wiederholt durch die alten Mauern in alle Stockwerke der Oberschaffnei drangen: „Alle Kinder, groß und klein, wollen heute glücklich sein.“ Glücklicherweise gab es eine Schar von Schülerleseratten, die regelmäßig zu den Ausleihzeiten zur Stelle waren und ohne Aufforderung mithalfen, die Bücherordnung bei zu viel Besucherandrang aufrecht zu halten. Einen großen Fortschritt gab es, als für die Öffnungszeiten der Bibliothek eine Zweitkraft eingestellt werden konnte: Frau Alheide Kleifeld aus Öpfingen verbesserte mit großer Geschicklichkeit und ihrer Intelligenz den Bücherbetrieb. Es waren auch mehr und mehr neue Aufgaben zu erledigen. Als der größten öffentlichen Bücherei im Alb-Donau-Kreis sollten die steigende Anzahl der Gastarbeiter und besonders deren Kinder viel Lesematerial bekommen, und man besorgte die erforderlichen zweisprachigen 46 47
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